Kinder überraschen zum Schulbeginn

«Achtung: Kinder überraschen. Rechnen Sie mit allem.» Das besagt die neue Kampagne der Polizei und der Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu zum Schulbeginn. Leider kann man mit etwas nicht rechnen: dass jemand den mittlerweile siebenjährigen Kindern beigebracht hat, wie sie sich auf dem Schulweg verhalten sollen.

Schulbeginn 2019

Bitte nicht nachmachen

In der neuen Kampagne der Polizei und der Beratungsstelle für Unfallverhütung springen Kinder an Springfedern aus dem Nichts durch eine Klappe im Fussgängerstreifen und hinter parkierten Autos hervor. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Kinder davon nicht inspirieren lassen.

Unsere Lokalzeitung hat mit Verweis auf die Unfallstatistiken bereits geschrieben: Nicht alle Schulkinder kommen lebend wieder nach Hause. Auch wenn es nicht ganz diese Worte waren: Das ist nicht das, was Eltern hören möchte – oder irgendwer. Sind die Werber hier vielleicht über ihr Ziel hinausgeschossen?

Oft fehlt die Verkehrskompetenz

Ich war als Kind oft mit meiner Mutter und meinen Schwestern zu Fuss unterwegs. Dabei hat meine Mutter uns alles Wichtige beigebracht, wie wir uns entlang von Strassen und beim Überqueren verhalten müssen. «Luege, lose, laufe» lautete der Leitspruch. Als wir dann später alleine auf dem Weg zur Schule waren, besassen wir bereits die nötige Kompetenz.

Fussgänger hatten früher am Fussgängerstreifen noch keinen Vortritt, und waren auch deshalb aufmerksamer als heutige Menschen, die mit starrem Blick auf ihren Handy-Bildschirm den Fussgängerstreifen betreten, ohne sich davor nach dem Verkehr umzuschauen. Und dieses Verhalten der Erwachsenen ahmen heutige Kinder – mangels anderer Vorbilder – nach. Heute ist ja auch kaum mehr jemand zu Fuss unterwegs. Eltern fahren mit den Kindern fast überallhin nur noch mit dem Auto oder im Velo-Anhänger. Und entweder kennen sie die Verkehrsregeln selbst nicht (siehe unten «Kenne Deine Strassen»), oder sie beachten sie einfach nicht. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso auch immer wieder Erwachsene mit Kinderwagen oder kleinen Kindern an der Hand direkt vor mein Auto laufen.

Schulbeginn 2019

Die fehlende Verkehrserziehung gilt natürlich nicht für alle Eltern und alle Erwachsene, aber leider für eine erschreckend grosse Zahl. Diesen gilt dieser Aufruf: Geht mit den Kindern regelmässig zu Fuss und erklärt ihnen dabei, wann wer wieso Vortritt hat und wie sie die Strasse richtig überqueren. Wer das am ersten Schultag zum ersten Mal tut, trägt eine Mitschuld daran, wenn die Kinder sich später falsch verhalten.

Ewig warten?

Ein paar Wochen nach dem Schulbeginn sehe ich oft von weitem Kinder, die an einer Nebenstrasse am Fussgängerstreifen warten, und immer noch dort stehen, wenn ich eine halbe Minute später auf der Hauptstrasse vorbeifahre. Weil ihnen jemand, vermutlich der Dorfpolizist, beigebracht hat, dass sie warten müssen, bis ein Auto vor dem Fussgänger anhält. Das war während der «Rad steht, Kind geht»-Kampagne. Doch niemand hat ihnen gesagt, dass sie die Strasse auch dann überqueren dürfen, wenn kein Auto kommt. Dass sie lange dort stehen, sendet falsche Signale aus: nämlich dass das Kind die Strasse gar nicht überqueren möchte, sondern hier nur auf einen Klassenkameraden wartet.

Und scheinbar hat ihnen auch niemand gesagt, was sie machen müssen, wenn es keinen Fussgängerstreifen gibt, vor dem sie warten können. Diese Kinder laufen mir dann in der 30er-Zone regelmässig direkt vors Auto, obwohl sie keinen Vortritt haben. Bitte, liebe Polizei, macht es besser und lehrt den Kindern die relevanten Dinge! Und bringt ihnen auch bei, wie sie die verschiedenen Strassentypen (siehe unten) unterscheiden können.

Amerikanische Verhältnisse auch in der Schweiz?

Überängstliche Eltern lassen Kinder heutzutage nicht mal mehr selbst zu Fuss zur Schule gehen. Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren, werden immer mehr zum Problem. Damit blockieren sie nicht nur den Verkehr rund um Schulen, sondern sie gefährden auch andere Schulkinder, die zu Fuss unterwegs sind. Und nicht zuletzt sorgen sie dafür, dass ihre Kinder die nötige Kompetenz im Strassenverkehr lernen können. Immer mehr Gemeinden reagieren mit Flyern und Vorschriften auf dieses Problem.

Schulbeginn 2019

Die Gemeinde Ittigen im Kanton Bern hat auf das neue Schuljahr hin «Kiss & Ride»-Parkplätze eingerichtet. Hier dürfen sich Eltern im Auto während maximal 2 Minuten hinstellen, um ihre Kinder ein- und aussteigen zu lassen. Auf dem übrigen Schulgelände gilt ein Park- und Halteverbot.

Das «Kiss & Ride»-System stammt aus den USA. Denn leider haben wir mittlerweile auch in der Schweiz amerikanische Zustände erreicht. Die Tafel mit den Anweisungen bleibt noch bis zum Schulstart am Montag hin zugedeckt.

Autofahrer in der Verantwortung

Natürlich passen Autofahrer auf. Autofahrer wollen niemanden überfahren, und schon gar nicht Kinder. Und natürlich müssen Autofahrer ihren Teil dazu beitragen, dass Kinder und alle anderen Fussgänger die Strasse sicher überqueren können. Es ist aber falsch, die Verantwortung nur den Autofahrern aufzubürden. Und genau das scheint die neue «Kinder überraschen»-Kampagne zu tun.

Wichtig sind für Autofahrer die folgenden Verhaltensregeln:

  • Vor dem Fussgängerstreifen komplett anhalten, um Kinder die Strasse überqueren zu lassen. Und das möglichst mit einem gehörigen Abstand zum Fussgängerstreifen, mindestens zwei Meter, um die Kinder nicht zu verängstigen und ihnen genügend Platz zu lassen, um sich umzuschauen. Autofahrer aus der Gegenrichtung sehen die Kinder auf dem Fussgängerstreifen damit auch früher.
  • Keine Handzeichen geben. Denn die Kinder müssen sich selbst vergewissern, dass sie die Strasse gefahrlos überqueren können. Wer Kinder hinüberwinkt, sorgt unter Umständen dafür, dass sie zu wenig auf den Verkehr aus der anderen Richtung achten.
  • Konsequent bleiben: Anhalten, wenn die Kinder auf dem Fussgängerstreifen und in der Begegnungszone Vortritt haben, und nicht anhalten, wenn die Kinder keinen Vortritt haben. Wer nett sein will und zum Beispiel in der 30er-Zone anhält, um Kinder die Strasse überqueren zu lassen, obwohl sie hier keinen Vortritt haben, verwirrt die Kinder und sorgt dafür, dass sie an derselben Stelle auch vom nächsten Auto erwarten, dass es anhält – und direkt davor laufen. Oder Autofahrern dann immerhin den Stinkefinger zeigen, wenn sie ihren vermeintlichen Vortritt missachten.

Bitte haltet Euch daran.

Kenne Deine Strassen

Ist es mittlerweile wirklich so schwierig, den Durchblick zu behalten? Hier eine kleine Auffrischung:

  • Begegnungszone 20 km/h: In Wohnquartieren mit wenig Grünflächen werden Spielstrassen bzw. Begegnungszonen eingeführt, um eine zusätzliche Spielfläche zu schaffen. Diese Zonen sind mit einem speziellen Schild und meistens auch mit Bodenmarkierungen gekennzeichnet. Hier gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h und Fussgänger haben Vortritt, wenn sie die Strasse überqueren möchten. Trotzdem müssen auf der Strasse spielende Kinder diese freigeben, wenn Autos durchfahren möchten. Ebenso dürfen Fussgänger, die auf der Strasse spazieren, Autos nicht unnötig behindern.
  • 30er-Zone: In verkehrsberuhigten Wohnquartieren oder immer häufiger auch flächendeckend in autofeindlichen Gemeinden werden Tempo-30-Zonen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern eingeführt. Trotz des tiefen Tempolimits gelten hier die üblichen Verkehrsregeln, was Kinder und viele Erwachsene allzu oft nicht zu wissen scheinen. Hier haben auf der Strasse nicht Fussgänger, sondern Autos Vortritt. Viele Gemeinden bedenken beim Einführen von Tempo-30-Zonen nicht, dass in diesen Fussgängerstreifen grundsätzlich nicht erlaubt sind und entfernt werden müssen. Wohl auch deshalb kommt es zum Missverständnis, in dem sich allzu viele Fussgänger – und vor allem auch Kinder – befinden. Die Gemeinde Lyss im Berner Seeland hat deshalb bei der Einführung von Tempo 30 auf der Hauptstrasse Schilder aufgestellt, die auf den Vortritt der Autos hinweisen.
    30er-Zone: Autos haben Vortritt
  • 40er-Zone: An Stellen mit leicht erhöhtem Risiko, die zum Beispiel eingeschränkt überblickbar sind, oder in denen sich der Verkehr etwa vor einem Fussgängerstreifen oft staut, markieren viele Gemeinden eine Höchstgeschwindigkeit von 40 Stundenkilometern. Hier gelten die üblichen Vortrittsregeln: Autos haben auf der Strasse Vortritt, Fussgänger auf dem Fussgängerstreifen, die hier erlaubt bleiben. Befindet sich ein Fussgängerstreifen näher als 50 Meter entfernt, müssen Fussgänger diesen benutzen und haben hier Vortritt. Aber Achtung: Autos benötigen bei Tempo 40 etwa 16 Meter, um zu bremsen und anzuhalten. Fussgänger dürfen deshalb trotz Fussgängerstreifen nicht einfach so auf die Strasse laufen, wenn sich ein herannahendes Auto näher als 16 Meter vom Fussgängerstreifen entfernt befindet und damit nicht mehr rechtzeitig anhalten kann.
  • Generell 50 km/h: Innerorts gilt die generelle Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern. Befindet sich ein Fussgängerstreifen näher als 50 Meter entfernt, müssen Fussgänger diesen benutzen und haben hier Vortritt. Autos benötigen bei Tempo 50 etwa 25 Meter, um zu bremsen und anzuhalten. Fussgänger dürfen deshalb trotz Fussgängerstreifen nicht einfach so auf die Strasse laufen, wenn sich ein herannahendes Auto näher als 25 Meter vom Fussgängerstreifen entfernt befindet.

Und genau diese Unterscheidung der unterschiedlichen Strassen und Vortrittsregeln sollen Eltern oder sonst halt die Polizei den Kindern beibringen. Gerade auch die Eltern sind in der Verantwortung, ihren Kindern das Verhalten auf dem Schulweg und auf der Strasse beizubringen. Das klappt zukünftig hoffentlich besser.

Ich wünsche den Schulkindern einen guten Schulbeginn und hoffe, dass alle gesund wieder nach Hause kommen.

Permalink zu diesem Beitrag: http://ptrl.ch/kinderü

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