Unfälle an Fussgängerstreifen: Sind Autofahrer an der Dunkelheit schuld?

Es ist draussen wieder sehr dunkel und Unfälle auf Fussgängerstreifen häufen sich. «Schuld sind meistens die Autofahrer», schreibt die Schweizer Gratiszeitung «20 Minuten» am 20. Dezember 2018 auf ihrer Titelseite. Der Artikel ist eine stümperhafte Schuldzuweisung an die Autofahrer und zielt an der Hauptursache vorbei.

Sind Autofahrer schuld?

Der Artikel wirft den Autofahrern Unaufmerksamkeit vor. Aber stimmt das wirklich? Wären Autofahrer generell unaufmerksam, müsste es doch auch tagsüber und an Sommerabenden genauso viele Unfälle geben. Dies ist aber nicht der Fall. Meiner Meinung nach sind Autofahrer in der Dunkelheit (hoffentlich!) sogar noch aufmerksamer als sonst! Denn bei schlechten Sichtverhältnissen konzentriert man sich als Autofahrer noch mehr als sonst, um alle relevanten Vorgänge auf und neben der Strasse wahrzunehmen.

Die vorgeworfene Unaufmerksamkeit ist vielmehr nur ein Auffangbecken der Statistiker, wenn dem Autofahrer kein konkreter anderer Vorwurf gemacht werden kann. Es ist genauso nichtssagend wie das «Nichtbeherrschen des Fahrzeugs», das zumindest früher so oft in Polizeirapporte von Unfällen geschrieben wurde.

Sind Fussgänger schuld?

Die im Artikel zitierte Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) nennt «unvorsichtigtes Überqueren» als Hauptursache von Unfällen seitens der Fussgänger. Tatsächlich widmen Fussgänger immer weniger Aufmerksamkeit dem Verkehr. Sie führen Telefongespräche, unterhalten sich mit Freunden oder schauen auf den Handybildschirm, während sie ohne Blick nach links oder rechts auf die Strasse treten. Schon öfters wurden Forderungen laut, die diesen Blick aufs Handy beim Überqueren der Strasse unter Strafe stellen wollen. Der Aufruf «Augen auf die Strasse» soll für Fussgänger genauso gelten wie für Autofahrer.

Der beliebteste Kommentar zum «20 Minuten»-Artikel trifft dies auf den Punkt: «Viele Fussgänger nehmen gar nicht wirklich am Verkehr teil. Sie laufen mit Kopfhörern und Blick aufs Handy einfach drauflos.»

Immerhin räumt der Vertreter von «Fussverkehr Schweiz» ein, dass «ganz dunkle Kleidung sicherlich nicht empfehlenswert» sei. Und genauso sehe ich das auch. Viele Leute sind von Kopf bis Fuss schwarz angezogen und sind sich nicht bewusst, dass sie sich oft vor einem dunklen Hintergrund befinden – zum Beispiel vor einer hohen Hecke oder der Strasse selbst (im Bereich einer Steigung). Bei einem derart kleinen Kontrast werden Fussgänger ganz einfach unsichtbar. In einer Art umgekehrter Vogel-Strauss-Taktik glauben sie aber trotzdem (wenn auch zu Unrecht): «Wenn ich den Autofahrer sehe, sieht er mich auch.»

Ich habe mir schon oft überlegt, ob ich nicht die «Lüga» anlegen soll – die Leuchtgamasche, die noch aus meiner Zeit im Militär im Keller liegt, wenn ich im Dunkeln zu Fuss unterwegs bin. Schliesslich sind viele Kinderjacken und Schulsäcke mit reflektierenden Materialien ausgestattet  und Kinderschuhe haben eingebaute Leuchtelemente, aber für Erwachsene gibt es das kaum. Ja sogar Hundehalsbänder mit Blinklichtern gibt es! Während sich einige Velofahrer mit einer Leuchtweste auch in der Dunkelheit sichtbar machen und ja auch in vielen Ländern eine Leuchtwestenpflicht bei Pannen auf der Autobahn gilt, unternehmen erwachsene Fussgänger in der Regel nichts, um in der Dunkelheit besser gesehen zu werden. Dann aber sollten sie sich wenigstens dessen bewusst sein, dass man sie kaum sieht, und nicht übereilig auf die Strasse treten.

Hinzu kommt, dass gerade in städtischen Bereichen viele Fussgänger der Meinung sind, sie hätten auch ohne Fussgängerstreifen Vortritt. Sie laufen in 30er-Zonen ohne Fussgängerstreifen vor Autos, obwohl sie keinen Vortritt haben. Das sehe ich gerade bei Schulkindern viel zu häufig. Aber auch bei Erwachsenen, die es eigentlich besser wissen sollten. Einige Gemeinden haben bei ihren 30er-Zonen deshalb bereits Schilder aufgestellt, die den Fussgängern in Erinnerung rufen, dass Autos Vortritt haben.

Immer mehr junge Leute verzichten heute darauf, Auto fahren zu lernen. Deshalb entgeht ihnen vermutlich auch die wichtigste Information aus dem Verkehrskunde-Unterricht: der Bremsweg. Autos können nicht von einem Moment auf den anderen stillstehen, sondern benötigen eine gewisse Zeit und eine gewisse Distanz, um anzuhalten. Tritt man auf die Strasse, auf der ein Auto schon sehr nahe ist, ist es physikalisch nicht möglich, dass dieses rechtzeitig anhält. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man sich auf dem Fussgängerstreifen befindet.

Hauptgrund ist die Dunkelheit

Im «20 Minuten»-Artikel steht aber auch: «Hauptgrund für die Unfälle ist die Dunkelheit.»

Und an der Dunkelheit tragen weder die Autofahrer noch die Fussgänger eine Schuld. Schuld hingegen sind die Gemeinden, die nicht genug gegen die Dunkelheit unternehmen. Während einige Gemeinden vorbildlich Fussgängerstreifen-Leuchtschilder installiert haben, die von weitem zu sehen sind und den Bereich des Fussgängerstreifens taghell erleuchten, lassen andere Gemeinden ihre Fussgängerstreifen im Dunkeln. Eine gute Beleuchtung gehört sowieso zu den Kriterien für einen sicheren Fussgängerstreifen. Hier müssen unbedingt die zuständigen Behörden in die Verantwortung genommen werden.

Einige Gemeinden installieren auch Fussgängerampeln, die für die Autos entweder auf Grün stehen oder nicht eingeschaltet sind, solange kein Fussgänger in der Nähe ist. Betätigt ein Fussgänger den Knopf, schaltet die Ampel zügig auf Rot, damit der Fussgänger die Strasse sicher überqueren kann. Ein solches System macht die Fussgängerstreifen zusätzlich sicherer.

Sowieso sind Schweizer Strassen in der Nacht ein Problem. Gerade bei Regen sind die Linien kaum zu sehen und es ist eher ein Rätselraten, wo man durchfahren muss. Hier fehlen Reflektoren, die im Ausland vielerorts eingesetzt werden, um den Strassenverlauf auch bei Dunkelheit klar zu kennzeichnen. Solche leicht erhöhten «Katzenaugen» wirken auch gleich als passiver Spurhalteassistent und warnen Autofahrer beim Überfahren durch ein leichtes Rütteln, dass sie sich am Rand der Spur befinden und besser in die Mitte der Fahrbahn zurückkehren sollen.

Fazit

Beim grossen Wert, den die Schweizer Politik auf Sicherheit im Strassenverkehr legt, ist es unverständlich, dass nicht mehr gegen die Dunkelheit als Hauptgrund der Unfälle unternommen wird. Gemeinden müssten verpflichtet werden, ihre Fussgängerstreifen gut zu beleuchten. Dunkel gekleidete Fussgänger müssen sich bewusst sein, dass Autofahrer sie nicht sehen können. Die Autofahrer sind nicht schuld an der Dunkelheit. Deshalb dürfen sie auch nicht zu Sündenböcken für Unfälle aufgrund von ungenügend beleuchteten Fussgängerstreifen gemacht werden. Und natürlich müssen alle Beteiligten im Strassenverkehr – Autofahrer, Velofahrer, Fussgänger – ihren Teil dazu beitragen, aufmerksam zu sein und Unfälle zu vermeiden.

Permalink zu diesem Beitrag: http://ptrl.ch/dunkel

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